Dies ist ein Crosspost meines ISP-Blogs, den ich aus Datenschutzgründen leider nicht in gänze zugänglich machen kann.
Edits im Artikel geschahen ausschlieslich zur Anonymisierung der SuS, LehrerInnen und der Institution.
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„Rituale werden in und durch soziale Arrangements erzeugt, in denen Menschen ihr Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt […] darstellen.“1)
Das soziale Arrangement ist klar. Zwei Lehrer und 24 Kinder entwickeln ihr Verhältnis zu und untereinander auf der Bühne des Klassenraumes in der Institution Schule. Eine Schule in einer demokratisch, kapitalistischen Gesellschaft, mit der Aufgabe ihre Zöglinge, mittels ihrer Repräsentanten, jene zwei Lehrkräfte, auf eben diese Gesellschaft vorzubereiten.
„ Wenn von einem Ritual als Aufführung sozialer Handlungen die Rede ist, wird damit ein wiederkehrendes, zeitlich und räumlich begrenztes Ereignis bezeichnet.“ (ebenda. S. 340)
Das häufigste Ritual dürfte das Leisezeichen in meiner ISP-Klasse sein. Den Zeigefinger der linken Hand über die geschlossenen Lippen, wird die rechte Hand geöffnet mit der Handfläche nach vorne, neben den Kopf oder etwas höher gehalten. Für gewöhnlich geht es von den Erwachsenen aus, verbunden mit der stillen Aufforderung an die Kinder das Zeichen zu imitieren. Meist geht ihm der Klang der Portiersklingel oder der Klangschale voraus, die einer pawlowschen Glocke gleich, die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf den Signalgeber zentrieren. Der Sinn dieses Rituals ist es Ruhe und gegebenenfalls Aufmerksamkeit zu generieren. Für gewöhnlich gelingt dies. Falls nicht verfügt, zumindest im Falle erwachsener Signalgeber, der Initiator des Rituals über positive oder negative Verstärker im Sinne einer operanten Konditionierung, indem tischeweise Sterne vergeben oder abgezogen werden. Ist eine bestimmte Menge Sterne erreicht, so gibt es Punkte, die ihrerseits ab einer bestimmten Menge in Kaugummipunkte, Inselzeit, oder ähnlich populäres investiert werden können. Drei Dinge werden hierbei deutlich. Erstens, dass es zwischen dem Sinn des Rituals (Ruhe und Aufmerksamkeit) und den Stellschrauben (Sterne und Punkte / Belohnung und Strafe) keinen sachsinnlogischen Zusammenhang gibt. Zweitens, dass stets mit Kollektivstrafen zu rechnen ist. Zwar kann ein einzelner Schüler konstant dem Erhalt der begehrten Sterne für den ganzen Tisch im Weg stehen reden, es ist aber nicht möglich, dass ein einzelner ruhiger Schüler das Gegenteil für einen ansonsten unruhigen Tisch bewirkt. Drittens, dass die SuS über den Stellvertreter Stern/Punkt an die Regularien des Geldkreislaufes herangeführt werden. Das erfüllen bestimmter Erwartungshaltungen bringt Tokens zum Befriedigen von Bedürfnissen, die (mindestens im Falle von Kaugummi) durch künstliche Verknappung eine vermeintliche Wertsteigerung durch die Punkteverteiler erfahren. Die Lehrkräfte erfüllen den gesellschaftlichen Auftrag, die Kinder lernen, dass die Klingel und der Akt Instrumente der Macht sind. (Wie würden sie wohl erste verfahren, wenn sie auch Punkte vergeben dürften?)
„Die Macht performativer Prozesse hat den Effekt der Einverleibung von Machtstrukturen […]; sie erzeugen einen Habitus, der sich […] in der Anerkennung von Autoritäten und Hierarchien“ (ebenda. S342) ausdrückt.
Um hier nicht missverstanden zu werden; Rituale wie Regeln sind wichtig. Sie zeigen Kindern nicht nur Grenzen auf, sondern bieten eben dadurch auch Orientierung. Als soziales Wesen ist der Mensch auf gemeinsame Regeln angewiesen um das Zusammenleben eben zu regeln. Hierbei hilft die „normative Ordnung [von Ritualen; A.-C. B.], die in durch formalisierte und repetitive Pragmatiken der Aufführung gewährleistet wird.“ (ebenda. S. 341) Sollen Regeln in der Gemeinschaft anerkannt werden, so sollten sie gemeinsam vereinbart, erarbeitet und akzeptiert werden. Wie verhält es sich nun in der Schule. Regeln werden von den Erwachsenen vorgegeben; Kinder haben sich danach zu richten. Dies kann seine Berechtigung darin finden, dass nicht zu erwarten ist, dass Kinder die Notwendigkeit einer Regel nicht erkennen können, da sie erst in der Zukunft zum tragen kommt. Wer einmal mit Kindern über die Notwendigkeit von Zähneputzen diskutieren musste wird das Dilemma kennen. „Von wegen Zahnschmerzen; als ich eben in den Keks gebissen habe hat das überhaupt nicht weh getan.“ 🙂
Fragwürdig wird es dann, wenn Regeln aus der Willkür eines einseitigen Machtgefälles entstehen. Kaugummi- und Kapuzenverbote entstehen aus der Perspektive der Erwachsenen, werden nicht verhandelt und haben meist keinen logischen Bezug zu der erwarteten Aufmerksamkeit, wie das populäre Versagen von Nachtisch bei unaufgeräumten Kinderzimmern. Aufmerksam ist ein Kind nicht, weil es keine Kapuze auf dem Kopf hat, sondern weil es den Unterrichtsgegenstand für subjektiv bedeutsam hält.
Das zweithäufigste Ritual ist das Aufräumlied.
„Anders als Du“ von der CD „Ich und du – Schubidu“
Zum Ende einer Stunde/Einheit wird es eingeschaltet und signalisiert einen spezifischen Zeitraum, in dem der Platz aufgeräumt werden soll. (Abgeschlossen wird es dann für gewöhnlich von einem Impuls der Portiersklingel/Klangschale plus oben ausgeführtem Leisezeichen.) Nicht nur, dass der Text des Liedes keinen inhaltlichen Bezug zu der damit gekoppelten Aufforderung des Aufräumens besitzt, auch steht der Text in krassem Gegensatz zur Haltung meiner ISP-Anleiterin bezüglich der Thematisierung von Heterogenität beziehungsweise dem Benennen von individuellen Merkmalen. Dass der Text in den vier Wochen nicht weiter thematisiert wurde oder darauf verwiesen wurde ergibt in dieser Hinsicht allerdings wieder ein schlüssiges Gesamtbild.
Ähnlich wie die Verfahrensweise in der Klärungsrunde des Klassenrats oder bei anderen Streitigkeiten. Für gewöhnlich verläuft es so, dass ein Kind sagt, dass es mit einem anderen aus der Klasse etwas klären möchte. (Sollte es aus Versehen sagen, „Ich möchte mich über XY beschweren!“ wird es darauf hingewiesen, dass dies ja sehr negativ klinge und klären viel besser sei.) Dann darf der Beschwerdeführer Klärungsbedürftige seinen Fall vortragen. Anschließend erhält der Beschuldigte Erklärende (?) die Gelegenheit zu einer Stellungnahme. Egal wie diese ausfällt, ob eine Begründung für das Verhalten angeführt wird oder die Sicht der Dinge eine völlig andere ist (zum Beispiel wer angefangen hat), wird das erste Kind gefragt, was es sich vom zweiten wünscht. Dann wird das zweite Kind gefragt, ob es schafft diesem Wunsch zu entsprechen (und da oft genug diese Frage stellvertretend von einem Erwachsenem gestellt wird) ist klar, dass die Antwort „Ja!“ zu lauten hat und auch entsprechend ausfällt. So reicht für gewöhnlich allein die Anklage der Klärungswunsch (L. wollte nicht, dass S. Blumen auf den Bolzplatz malt) um seine Interessen durchzusetzen (S. durfte dort keine Blumen mehr malen), wo aus meiner Perspektive die Suche nach einer Möglichkeit zur friedlichen Koexistenz wünschenswert, möglich und erfolgversprechend gewesen wäre.
Selbstverständlich gibt es auch Rituale, die keinem weh tun.
Die Gesprächsregeln der Klasse sind natürlich sinnvoll. Sich gegenseitig auszutauschen, in den Diskurs zu treten und Ideen zu teilen ist stets sinnvoller als eine Kommunikation gegeneinander.
Zu Beginn der Sport-Aufbau-Stunde montags, machte meine ISP-Anleiterin mit den SuS immer einen Rap. (An dieser Stelle könnte ich mich gerade in den A*#Φh beißen, dass ich den Text nich aufgeschrieben habe.) Der Text bereitete inhaltliche auf die kommende Stunde vor, wurde sprachlich und körperlich (rhythmisches Klopfen auf dem Boden) und vor allem von Erwachsenen und Kindern gemeinsam performt.
Ebenfalls halte ich die diversen Dienste für sinnvoll. Kollektiv wird an dem gemeinsamen Raum gearbeitet. Gefällt einem ein Dienst nicht mehr, so wird die Möglichkeit geboten ihn gegen einen anderen zu tauschen. Auf diese Weise leisten alle einen Beitrag für etwas Gemeinsames.
Gerade die letzten drei Beispiele führen meiner Meinung nach zur Stiftung einer sozialen Identität in der Klasse, in die angesichts der oft zu tage tretenden mangelnden Sozialkompetenzen der SuS weit mehr Zeit investiert werden sollte.
1) C. Wulf & J. Zirfas „Das Soziale als Ritual: Perspektiven des Performativen“ in Wulf, Christoph et al.: „Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften“, Leske + Budrich; Opladen 2001, S.339