Willkommen in der Ära der postfaktischen Befindlichkeit

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Screenshot der Gruppenregeln

Wie so viele Menschen bin ich Mitglied in verschiedenen FB-Gruppen. Unter anderem auch in einer, die sich dem Stadtteil widmet in dem ich lebe. Als vor etwas über einem Jahr die Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft auf einem Parkplatz anstand führte dies auch in eben jener FB-Gruppe zu intensiven Diskussionen, woraufhin Admin* noch mal ausdrücklich auf die nebenstehenden Gruppenregeln verwies und den Diskussionsthread zum Thema löschte.

Nun kam es in der letzten Woche zur Urteilsverkündung im Fall einer Gruppenvergewaltigung. Viele Menschen hielten das Strafmaß in Anbetracht der Tat für entschieden zu milde und es wurde unter anderem eine Onlinepetition eingerichtet, die fordert mit dem Fall in Revision zu gehen. Dabei darf davon ausgegangen werden, dass Petitionsersteller und Zeichner_innen die Hoffnung daran knüpfen, dass eine härtere Strafe das Ergebnis ist. (Spannend wäre, welche Folge ein milderes Urteil wohl hätte.) So heißt es auf der Seite der Petition:

„Aber wenn sich eine Rechtsprechung entwickelt, die nichts mehr zu tun hat mit den moralischen Empfindungen der Bürger, dann verliert die Justiz ihren Anspruch Urteile „Im Namen des Volkes“ zu sprechen.“ (Quelle)

Ich meine, dass in diesem Absatz eine gesamtgesellschaftliche Tendenz relativ deutlich zusammengefasst ist. Die Rechtsstaatlichkeit verliert (nach deren Überzeugung) ihre Legitimation, wenn sie nicht dem subjektiven Gefühlen einer bestimmten Gruppe untergeordnet werden kann. Irgendwo zwischen der Forderung von Nazis von „Todesstrafe für Kinderschänder“ und der Empörung nach der Silvesternacht von Köln wäre meiner Meinung nach auch diese Petition einzuordnen. Letztendlich also ein wütender Mob mit Mistgabeln und Fackeln in seiner digitalen Ausprägung. Wobei zu begrüßen ist, dass das Risiko der Lynchjustiz hier deutlich geringer sein dürfte.

Unabhängig davon, wie man persönlich zu Tat, Urteil und der Petition steht darf glaube ich festgestellt werden, dass es sich um ein kontrovers zu diskutierendes Thema handelt. Damit wären wir auch wieder beim Auftakt. Admin besagter FB-Gruppe postete eben jene Petition mit dem Hinweis, dass der Inhalt nicht diskutiert werden wolle, man Feedback geben möge, wenn man gezeichnet habe und ergänzte das Ganze noch um ein paar Emoticons, wozu auch ein Smiley gehörte. Als ich darauf hinwies, dass dies doch gegen die Gruppenregeln verstieße und ich Smileys für das Thema unangemessen halte war ich schwups aus der Gruppe entfernt worden. Offensichtlich war es mit der Kritikfähigkeit von Admin nicht weit her. So irritierend (Ich hatte mich an die Regeln gehalten – warum fliege ich raus?) und ärgerlich ich diesen Verlauf fand, so überrascht war ich, als Admin mich dann persönlich auf FB kontaktierte. Der Chat ist im Folgenden in Gänze wiedergegeben. Gleichermaßen beeindruckend wie beängstigend finde ich dabei, dass sofort im Sinne eines „Wenn du nicht für mich bist, bist du gegen mich“ Denkens jedes noch so sachlich vorgetragene Argument ignoriert wird, während die eigene Gefühlslage von Admin ausreicht mir das Gegenteil von dem zu unterstellen, was ich mehrfach zu Protokoll gegeben habe.


Samstag 22.10.2016 10:52 Admin: Hey, finde ich sehr daneben, dass du mit sowas kommst! Findest du das Urteil gut? Mann Mann Mann Geht menschlich gesehen echt gar nicht!

Samstag 22.10.2016 17:44 EvoluSiN: Ich finde Nazis gehen auch mal gar nicht. Trotzdem wurde ich darauf hingewiesen, dass diese Gruppe für politische Diskussionen nicht vorgesehen ist. Ich habe dich lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass du dich nicht an deine eigenen Gruppenregeln hältst (und ich Smileys in diesem Zusammenhang unpassend finde). Zu diesem Urteil im speziellen und Rechtstaat im allgemeinen habe ich an anderer Stelle schon eine ausführliche Diskussion geführt und wollte sie in der Gruppe mitnichten wiederholen. Ob ich das Urteil für angemessen halte oder nicht ist auch eher unerheblich, aber wenn du entgegen der Gruppenregeln einen zur Kontroverse geeigneten Beitrag postest, spricht es nicht unbedingt für deine argumentative Basis, wenn du entgegengesetzte Meinungen als unerwünscht labelst. Und dafür ist dein Post wieder ein Paradebeispiel, dass Rechtstaatlichkeit nämlich generell gelten sollte und nicht in Abhängigkeit von individuellen Befindlichkeiten, geschweige denn vom Volksvotum. Solche Befindlichkeiten können sich nämlich schneller ändern als Gesetze und mit etwas Pech sieht man sich am Ende als Leittragend_r der eigenen Forderungen.

22.10.2016 17:47 EvoluSiN: Dein Umgang mit Kritik ist übrigens noch „entwicklungsfähig“, wenn sowas für dich bereits ausreicht um mich aus der Gruppe zu schmeißen.

Sonntag 23.10.2016 17:17 Admin: Ich frage mich ernsthaft wofür du kämpfst… findest du das Urteil gut? Solche Menschen möchte ich nicht um mich haben

23.10.2016 17:18 EvoluSin: Ich habe nie behauptet, dass ich das Urteil gut finde. Hier mal meine Ausführungen zum Thema, die ich an anderer Stelle gemacht habe:

23.10.2016 17:22 EvoluSiN: “ Vorneweg; ich halte die Tat von allen Beteiligten für Grundfalsch! @ Julia: 4 Jahre Gefängnis sind nicht gerade eine Aufforderung zur Nachahmung und die Bewährungsstrafen werden um therapeutische Maßnahmen erweitert. Dies dürfte auch das oben geforderte „Mitgefühl“ behandeln. Da Resozialisierung ein Grundgedanke unseres Rechtssystems, besonders im Jugendstrafrecht, ist, mag man mehr oder weniger fordern, sollte meiner Meinung nach aber nicht den Grundsatz in Frage stellen. Das Angehörige der Täter_innen jubeln ist nachvollziehbar, da sie ihre Kinder nicht im Knast besuchen müssen. Egal wie scheiße dein Kind ist – es ist immer noch dein Kind. @ Alexander Hammans : derartig mittelalterliche Rechtsauffassung bewegt sich ungefähr auf dem moralischen Entwicklungsgrad der Tat und qualifiziert dich nicht gerade als Vorbild für gesellschafts- und rechtskonforme Lebensweisen.“

23.10.2016 17:22 EvoluSiN: „Ich stimme dir dahingehend zu, dass bei dem Haupttäter anzunehmen ist, dass er nach der Haft immer noch kein Heiliger ist. Ich könnte mir allerdings vorstellen/hoffe, dass er zumindest auf Vergewaltigungen verzichtet. Mein Punkt war auch eher, dass man auch bei individuellem Missfallen eines spezifischen Urteils sich davor hüten sollte das zugrunde liegende System/Konzept in Frage zu stellen.“

23.10.2016 17:23 EvoluSiN: „Wir werden unterschiedlich beurteilt. Im Fokus steht die individuelle Tat. Hinzu kommen Faktoren wie Motivation und ggf. Reue (

23.10.2016 17:23 EvoluSiN: „zum Thema in Frage stellen: Ich meine, dass ich davon ausgehe, dass nach vier Jahren Knast der Typ nicht mehr vergewaltigen wird, weil er in seiner „individuellen Risiko-Nutzen-Abwägung“ zu dem Schluss kommen könnte, dass er nicht noch mal und für deutlich länger ins Gefängnis möchte. Dennoch halte ich es für realistisch, dass kleinere/andere Vergehen und Ordnungswidrigkeiten aufgrund ökonomischer und soziologischer Rahmenbedingungen wieder vorkommen werden. Das bedeutet nicht, dass ich das für ideal halte. Aber ich halte es für besser als eine „emotionsgeleitete Willkürrechtssprechung“, die stark von der Perspektive des Rechtsprechenden abhängt.“

23.10.2016 17:24 EvoluSiN: „Betr. Handtasche: Das häufig Vergehen gegen materielle Werte härter geahndet werden als gegen Menschen ist durchaus ein genereller Punkt, der mir auch immer wieder aufstößt.“

„Da stimme ich dir in vielerlei Hinsicht zu. Allerdings bedeuten dummerweise solche Reformen nicht immer einen Wandel hin zum „Besseren“, sondern sind oft von Partikularinteressen der Reformenden beeinflusst. Beispiel? https://netzpolitik.org/…/fuenf-drastische-folgen-des…/

Ich habe mich hier auf meine Beiträge beschränkt. Insgesamt war es mit der betreffenden Person allerdings eine argumentbasierte Diskussion; gekennzeichnet von gegenseitigem Respekt.Eben solche Diskussionen hast du ausdrücklich in den Gruppenregeln als unerwünscht gekennzeichnet.

23.10.2016 17:31 EvoluSiN: Da du (meiner Meinung nach) mit dem verlinken der Petition gegen die von dir erstellten Regeln verstoßen hast, habe ich dich darauf aufmerksam gemacht. Smileys halte ich für das Thema Vergewaltigung für unangemessen, weil es eben nichts „witziges“ bei einer Vergewaltigung gibt. Auch darauf habe ich dich hingewiesen. Damit habe ich im Prinzip zwei Aspekte bestärkt, die dir wichtig zu sein scheinen.

23.10.2016 17:34 EvoluSiN: Warum du meinst mich deshalb aus der Gruppe auschließen zu müssen ist mir schleierhaft. Letztendlich ist es deine Gruppe und du kannst tun und lassen was du möchtest.

Heute 00:22 Admin: Ich würde dich gerne direkt sehen. Ich kann dieses Urteil nicht akzeptieren, es ist grausam!!! Ich sehe kein Foto von dir

Heute 08:35 EvoluSiN: Du siehst kein Foto von mir, weil ich (unabhägig von der Person) nicht möchte, dass man Fotos von mir sieht. Verstehe gerade auch nicht, welchen Unterschied es für dich macht, ob ich ein 20 Jahre alter man oder eine 50 Jahre alte Frau bin, ob ich schwarze oder braune Haare habe oder ob ich Brille trage oder nicht. Was ich dir verraten kann ist, dass ich in Stadtteil** geboren, aufgewachsen und mein Leben lang geblieben bin.

Heute 14:57 Admin: Es ist auch egal, ich kann und möchte solche Menschen nicht verstehen. Es sei denn, man ist Sadist und findet im Grunde solche Dinge gut… sonst stellt man sowas über die „Sache“ Zack

15:08 EvoluSiN: Du hast schon den Teil mitbekommen, wo ich meine Ablehnung gegenüber der Tat zum Ausdruck gebracht habe, oder? Was ich viel faszinierender finde ist, dass es den Eindruck macht, als wäre mein Hinweis auf deinen Verstoss gegen die Gruppenregeln automatisch gleichzusetzen mit einer Befürwortung des Urteils was wiederum gleichzusetzen wäre mit einer Befürwortung der Tat. In kurz und platt: Wer nicht sofort die Petition zeichnet ist für Vergewaltigung.

15:15 Admin: Wer sich über das posten so einer Petition aufregt ja😂 muss jeder selber wissen… versuche nur möglichst mich von solchen Menschen fern zu halten! Genau und es ist was anderes, was ich in meiner Gruppe mache. Stumpfsinnigen Mist ständig zu kontrollieren, darauf hat kein Admin Lust oder zeit, daher gibt es diese Regeln. Ich setze mich für das Gute ein. Jede Revolution wird und wurde durch das Volk ausgelöst, indem sie die aufgestellten Regeln hinterfragen und durchbrechen!

15:17 EvoluSiN: Das waren deine eigenen Regeln, die du da gebrochen hast. In dem Fall wäre „autokratisch“ eine passendere Zuschreibung als „revolutionär“.

15:18 Admin: So keine Zeit mehr für sowas! Gibt wichtigeres! Kümmere dich um dein Leben und erfreue Dich über weitere Vergewaltigungen 😒

15:19 EvoluSiN: Ich kümmere mich um viele Leben. 😉 Viel Spaß in deiner kleinen Autokratie. Und willkommen in der Ära des postfakltischen.

15:42 EvoluSiN:Sorry, muss natürlich „des postfaktischen“ heißen.

15:46 EvoluSiN: Mir „Freude über weitere Vergewaltigungen“ zu unterstellen dürfte übrigens den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllen. Aber da ich mich, im Gegensatz zu dir, durchaus mit (möglichen) Motiven von Menschen beschäftige, will ich da mal nicht so sein. Die gesamte Diskussion dokumentiert immerhin ziemlich anschaulich, dass deine emotionale Anteilnahme dich unempfänglich für Inhalte oder Argumente macht, die sich nicht deiner persönlichen Sicht unterordnen.


Ich halte es für dringend geboten diesem aktuellen Trend des postfaktischen entgegen zu treten (den ich bisher immer mit dem Euphemismus „bildungsresistent“ belegt hatte), denn wir hatten bereits eine Zeit in der „subjektive Einschätzungen“ und üble Nachrede alles andere als rechtsstaatliche Folgen für die Beschuldigten hatten. Dahin zurück wollen nur ewig gestrige und Geschichtsleugner_innen.

*Um die Persönlichkeitsrechte der betreffenden Person zu wahren wurde die (Netz)Identität durch den Begriff „Admin“ anonymisiert.

** same same

~ von evolusin - 2016.Oktober 24.

Eine Antwort to “Willkommen in der Ära der postfaktischen Befindlichkeit”

  1. Exemplarisch hänge ich hier einen Beitrag der Welt (ich weiß, Springerpresse) an, da in der Kommentarsektion ein quasi repräsentativer Bär tobt: https://www.facebook.com/welt/posts/10154762114333115

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